„Veränderung beginnt nicht in Berlin, sondern im Betrieb“ – Interview zum Buch „Unter Hochspannung“

Gerd Schoeller, Interview zu Unter Hochspannung
Foto © Gerd Schöller / CC0 Unsplash

Gerd Schöllers neues Buch „Unter Hochspannung“ will wachrütteln und zeigt den Weg nach vorn. Es macht deutlich, dass Deutschland vor der größten Transformation seit der Industrialisierung steht und näher am Systemversagen ist, als uns lieb sein kann. Im Interview erklärt der Energieunternehmer, warum wir gestalten statt verwalten müssen, weshalb Greenwashing völlig absurd ist – und warum echte Transformation nur durch unternehmerischen Mut gelingt.

Utopia: Sie vergleichen die aktuelle Umbruchphase mit der Industrialisierung. Erleben wir heute tatsächlich einen ebenso tiefgreifenden Wandel – diesmal unter dem Vorzeichen Klimaschutz?

Gerd Schöller: Ja, wir erleben einen Wandel von vergleichbarer Tiefe – wenn nicht sogar von größerer Tragweite. Die Industrialisierung war eine expansive Bewegung: Sie schuf neue Märkte, Wohlstand, Städte, Systeme. Unsere aktuelle Transformation ist auf den ersten Blick eine begrenzende – sie zwingt uns, mit Ressourcen effizienter umzugehen, Emissionen zu reduzieren, etablierte Strukturen zu überdenken. Doch im Kern geht es wie damals um die radikale Umgestaltung wirtschaftlicher, technischer und gesellschaftlicher Prozesse.

Schon im 19. Jahrhundert entstand Fortschritt aus dem Zusammenspiel von unternehmerischer Dynamik und politischem Rahmen. Unternehmer investierten, weil sie an neue Maschinen glaubten – Politik schuf Infrastruktur und soziale Sicherung. Auch heute braucht es diese Allianz: Nur wenn Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft gemeinsam handeln, gelingt die Transformation.

Wie nah sind wir Ihrer Einschätzung nach an einem echten Systemversagen – und was steht auf dem Spiel, wenn wir die Transformation nicht meistern?

Wir sind in bestimmten Bereichen näher an einem Systemversagen, als uns lieb ist. Nicht weil das System grundsätzlich falsch wäre, sondern weil es überlastet, verzettelt und zu wenig vorausschauend geführt wird. Die größte Gefahr liegt nicht in einem plötzlichen Zusammenbruch, sondern in der schleichenden Erosion von Vertrauen, Handlungsfähigkeit und Zusammenhalt.

Auf dem Spiel steht etwas viel Tieferes: gesellschaftlicher Friede, Standortqualität, internationale Anschlussfähigkeit und nicht zuletzt die Zukunft unserer Kinder. Wenn wir diesen Wandel nicht entschlossen anpacken, riskieren wir nicht weniger als unsere Zukunftsfähigkeit als Industrieland. Gleichzeitig bin ich kein Pessimist. Es fehlt nicht an Lösungen, es fehlt an Koordination, Langfristigkeit und einer gemeinsamen Haltung: Wir wollen gestalten, nicht verwalten.

Wo unternehmerischer Mut beginnt

Sie schreiben Unternehmen eine entscheidende Rolle in der Transformation zu. Was unterscheidet für Sie glaubwürdiges Engagement von bloßer PR?

Glaubwürdiges Engagement beginnt dort, wo Nachhaltigkeit nicht nur kommuniziert, sondern gelebt wird, wo sie Teil der DNA eines Unternehmens ist. Greenwashing ist vor allem im Energiebereich völlig absurd: Da gebe ich als Unternehmer viel Geld für Kampagnen aus, um etwas vorzutäuschen, was mir um die Ohren fliegen wird. Ich könnte stattdessen investieren, um langfristig Kosten zu senken.

Was mich überzeugt, sind Unternehmen, die konsequent auf selbstproduzierte Erneuerbare setzen, auf Speichersysteme, die Nutzung von Abwärme oder Energieeinsparung im Gebäudebestand. Die auch aktiv am Strommarkt teilnehmen. Nur wer seine Prozesse im Unternehmen kennt und transformiert, ist für mich glaubwürdig. Das mag kapitalistisch klingen, dem Klima ist das aber egal.

Gerd Schöller ist Geschäftsführer der Solarfirma Schöller Energie in Föhren bei Trier und ein Praktiker der Energiewende. Seit über einem Jahrzehnt entwickelt er nachhaltige Energielösungen für Bürger*innen und Unternehmen. Durch seine tägliche Arbeit kennt er die größten Hürden und besten Lösungsansätze auf dem Weg zu einem klimaneutralen Deutschland.

In seinem Buch „Unter Hochspannung“ räumt Schöller mit Mythen über die deutsche Energiewende auf und holt die Debatte auf den Boden der Tatsachen zurück. Der Energieunternehmer zeigt, wie die Transformation durch Hightech, Digitalisierung und unternehmerischen Mut gelingen kann. Das Buch liefert konkrete Antworten für alle, die endlich Lösungen statt endlose Debatten wollen. Online erhältlich bei:

Viele Unternehmen sagen: Wir würden ja gern klimafreundlich wirtschaften, aber die Politik macht es uns schwer. Haben Sie dafür Verständnis oder ist das aus Ihrer Sicht eine Ausrede?

Ich habe für diese Klage durchaus Verständnis, aber sie kann keine Ausrede sein. Ja, die regulatorische Komplexität ist hoch, Genehmigungsverfahren sind langwierig. Wer unternehmerische Verantwortung trägt, muss langfristig planen können und wurde häufig durch politische Uneindeutigkeit daran gehindert. Aber genau hier beginnt unternehmerischer Mut: Warten auf perfekte Rahmenbedingungen führt zu Stillstand.

Unsere wirtschaftliche Erfolgsgeschichte ist nicht das Ergebnis optimaler Politik, sondern unternehmerischer Gestaltungsfreude. Die Verantwortung liegt auf beiden Seiten, aber Unternehmen müssen aufhören, die eigene Untätigkeit auf politische Unvollkommenheit zu schieben. Veränderung beginnt nicht in Berlin – sondern im Betrieb.

Wenn wir es können, dann könnt ihr es auch

Was macht Sie so sicher, dass gerade Deutschland – mit seinen komplizierten Strukturen – ein globales Vorbild werden kann?

Gerade weil Deutschland keine idealen Voraussetzungen hat, kann es ein Vorbild werden. Wir haben nicht die Sonnenstunden Spaniens, nicht die Windverhältnisse Dänemarks, nicht die Wasserspeicher Österreichs oder die Geothermie Islands. Aber wir haben ein funktionierendes, wenn auch komplexes, Energiesystem und eine enorm vielfältige Energieerzeugung, verteilt auf unzählige Akteure. Mit mehr als 800 Netzbetreibern und Millionen dezentraler Einspeiser verfügen wir über ein einzigartiges, anspruchsvolles System.

Wenn wir es schaffen, diese Komplexität zu managen und trotzdem Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Klimaneutralität miteinander zu verbinden, dann ist das ein starkes Signal an die Welt: „Wenn wir es können, dann könnt ihr es auch.“

Sie schreiben, dass „die soziale Frage die Klimafrage erledigen kann“, wenn wir sie nicht gemeinsam denken. Was sind die drängendsten sozialen Konflikte und wie lassen sie sich entschärfen?

Die Energiewende ist nicht nur ein technisches Projekt, sie ist ein zutiefst gesellschaftliches. Menschen machen nicht mit, wenn sie das Gefühl haben, dass sie nur zahlen, aber nicht profitieren. Ein Beispiel: Wer sich ein E-Auto leisten kann, profitiert von Prämien und Steuererleichterungen, während andere auf den zweimal täglich fahrenden Bus angewiesen sind.

Wenn dann auch noch ein moralischer Zeigefinger von jenen kommt, die sich die Transformation leisten können, entsteht Abwehr statt Kooperation. Die drängendste Frage lautet: Wie stellen wir Teilhabe sicher – unabhängig von Einkommen oder Eigentum? Durch kommunale Energieprojekte, Mieterstrommodelle oder neue Mobilitätsangebote. Nur wenn wir die Transformation in die Lebenswelt der Menschen übersetzen, entsteht Vertrauen.

Was die größte Aufgabe unserer Zeit verlangt

Das Ziel der Klimaneutralität ist größer als vier Jahre Macht“, heißt es an einer Stelle. Was läuft strukturell falsch in unserem politischen System und wie kommen wir zu mehr Langfristigkeit in Entscheidungen, die über Legislaturperioden hinauswirken?

Unsere politischen Systeme sind vielfach auf kurzfristige Erfolge ausgelegt. Entscheidungen werden daran gemessen, ob sie sich innerhalb einer Legislaturperiode auszahlen. Die großen Aufgaben unserer Zeit verlangen genau das Gegenteil: Langfristigkeit, strategische Tiefe und Durchhaltevermögen.

Was fehlt, ist eine klare, überparteiliche Vision, die nicht mit jedem Umfrageergebnis neu diskutiert wird, sondern als konstanter Kompass dient. Hier können wir von Familienunternehmen lernen: Ihre Entscheidungen orientieren sich am langfristigen Bestand und an der Weitergabe von Werten. Dieses Denken in Generationen fehlt in der Politik häufig, es wäre aber dringend nötig.

Sie schreiben, wir müssten aufhören, Verantwortung immer nur bei den anderen zu suchen. Wie verändern wir eine Kultur des Wegschiebens hin zu einer Haltung des Tragens?

Verantwortung ist unbequem. Ws ist einfacher, mit dem Finger auf die Politik oder „die Konzerne“ zu zeigen. Doch der Wandel entsteht nicht durch Schuldzuweisung, sondern durch Beteiligung. Die zentrale Frage ist nicht: Wer trägt Schuld?, sondern: Was kann ich beitragen?

Die Handlungsspielräume sind vielfältig: Als Arbeitgeber in Energieeffizienz investieren, als Bürger sich in Energiegenossenschaften engagieren, im Alltag das Mobilitätsverhalten hinterfragen. Eine Kultur des Tragens entsteht, wenn wir Verantwortung nicht als Last verstehen, sondern als Gestaltungsraum. Jeder kann etwas tun und genau darum geht es.

Wir haben nicht nur Probleme, wir haben auch Lösungen

Zwischen den Zeilen Ihres Buchs liegt auch viel Mut und Zuversicht. Was macht Ihnen Hoffnung trotz aller Spannungen?

Mir macht Hoffnung, dass es bereits heute Menschen, Unternehmen und Netzwerke gibt, die nicht auf große politische Durchbrüche warten, sondern anpacken. „Unter Hochspannung“ versammelt viele dieser positiven Beispiele, von Stadtwerken über Netzbetreiber bis zu Bürgerenergie-Initiativen.

Zuversicht gibt mir auch, dass Transformation in Deutschland bereits mehrfach gelungen ist: Wirtschaftswunder, Aufbau Ost – das zeigt, wozu wir fähig sind, wenn politischer Rahmen und unternehmerischer Gestaltungswille zusammenkommen. Und nicht zuletzt: Die Kombination aus technischem Know-how, dezentraler Infrastruktur und Verantwortungskultur ist ein echter Standortvorteil. Wir haben nicht nur Probleme, wir haben auch Lösungen. Und Menschen, die bereit sind, sie umzusetzen.

Wenn Sie in zehn Jahren zurückblicken, woran würden Sie erkennen, dass wir es wirklich ernst gemeint haben mit dem Wandel?

Ich würde es an den Ergebnissen erkennen, aber nicht nur in Form von Zahlen, sondern daran, dass die Menschen den Wandel nicht mehr als Bedrohung, sondern als Fortschritt empfinden. Vor allem aber würde ich es an der Kontinuität erkennen: Dass wir es geschafft haben, auch über Legislaturperioden hinweg an einer Vision festzuhalten.

Wenn wir die soziale Frage mit der ökologischen verbinden und daraus echte Zukunftsverantwortung ableiten, dann ist für mich klar: Wir haben es ernst gemeint. Und wir haben es geschafft, eine der größten Herausforderungen unserer Zeit in eine echte Chance zu verwandeln und sie zu nutzen.

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